Von den gesellschaftlichen Schadwirkungen, die mit der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz des Postmodernismus als oberstem Paradigma und der zunehmenden Verbreitung postmodernistischer Denkweisen vor allem in Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien verbunden sind, habe ich bereits in einem Posting im vergangenen Mai ausführlich geschrieben. Symptomatisch und ein Indikator für diesen Paradigmenwechsel ist der Vormarsch des „Storytelling“ in immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebensvollzugs zulasten des klaren, analytischen, argumentativen und reflektierenden Denkens.
Als Beleg dafür, daß dies nicht nur „gefühlt“ so ist, sondern es sich dabei um einen realen Trend handelt, der auf einen tiefgreifenden Mentalitätswandel hindeutet, mögen die folgenden unsortierten Zusammenstellungen von Links aus der Geschäftswelt, des „Social Business“ und ( weiter unten) der christlichen Szene dienen, die das ganze Spektrum von der bloßen prominenten Nennung des Begriffs „Storytelling“ bis hin zu erschöpfenden Darlegungen der Unerläßlichkeit von Storytelling in der heutigen Zeit abdecken.
Linkliste 1: Storytelling in der Geschäftswelt und im „Social Business“
In dieser Linksammlung spiegelt sich wider, daß Storytelling auf bestem Wege dazu ist, zum „Wundermittel“ auf dem Gebiet des „Social Engineering“, der internen und externen Unternehmenskommunikation und der Kundenakquise zu avancieren – naturgemäß ganz besonders in der Medienbranche und im sozialen Sektor, aber längst nicht nur dort. Ob es nun darum geht, per Storytelling die eigenen Mitarbeiter bei Laune zu halten oder ganze lokale Gemeinschaften zu „reshapen“: man möchte gerne das Verhalten und Denken anderer Menschen unter Ausschaltung bewußter kritischer Reflexion in die gewünschte Richtung steuern.
Den Hintergrund dafür, daß man dem Storytelling derartige Wunderkräfte zumißt, bildet die sich zunehmend verbreitende postmodernistische Weltsicht mit ihrer Erkenntnistheorie, nach der die Stories unserer lokalen Sprach- und Kulturgemeinschaft die maßgeblichen Wahrheiten und Realitäten erzeugen würden, in denen wir Menschen leben, während es hingegen für uns keinerlei Zugriff auf eine globale Wahrheit und Realität geben würde.
Ein solches Denkumfeld begibt sich jeder Möglichkeit, zwischen Wirklichkeit auf der einen Seite und Manipulation/Fiktion auf der anderen Seite unterscheiden zu können – und zu wollen. Die Grenze zwischen beiden Bereichen verwischt – und wird bewußt verwischt. Jenseits störender Fakten kreieren und inszenieren wir „Wirklichkeit“ und erzählen unsere eigene Geschichte – oder gleich die Geschichte unseres Landes oder unserer Zeit – „neu“.
Auch die teilweise vernichtende Kritik sogar säkularer Philosophen – insbesondere aus dem angelsächsischen Raum – an der intellektuellen und logischen Unredlichkeit des zugrundeliegenden postmodernistischen Denkgerüsts ( mein Posting hierzu) vermag den Vormarsch dieser Tendenzen nicht zu stoppen, was den Journalisten Wolfram Weimer unlängst zu einer Art Weckruf veranlaßte: „Wir schätzen Wahrheiten nicht mehr genug“. Statt Wahrheit und Fakten zählt heute zunehmend die „hohe“ Kunst der (Selbst-)Inszenierung. Ein Indiz des sich vor unseren Augen vollziehenden großflächigen Mentalitätswandels: Während die ohnehin schon sehr hoch bewertete künstlerisch-kulturelle Betätigung von Menschen unaufhörlich im gesellschaftlichen Ansehen steigt und „hip“ ist, sinken im Gegenzug an Fakten orientierte solide Sachpolitik, der Bereich der Sachaufklärung und Analyse sowie der gesamte mathematisch-natur- und ingenieurwissenschaftliche Bereich beständig im Ansehen und erfahren eine teilweise unverhohlene Geringschätzung, ja unterliegen praktisch einem Generalverdacht des grundsätzlichen Instrumentalisiertseins durch verborgene Machtinteressen – ganz nach Art der postmodernistischen Lehre, für die Wahrheiten stets der Ausdruck von herrschenden Machtverhältnissen sind.
Für Christen finden diese Entwicklungen, Veränderungsprozesse und Paradigmenwechsel hinsichtlich der Mentalität und des Denkens nun nicht „auf einem anderen Planeten“ statt, so als hätten diese Dinge rein gar nichts mit dem Bekenntnis zum Glauben an Jesus und einer biblisch-christlichen Weltsicht zu tun, so als könnte man als bekennender Christ unbekümmert diesem Wandel neutral gegenüberstehen oder ihn gar enthusiastisch begrüßen und dabei gleichzeitig im Gottesdienst „Dir gebührt die Ehre und Anbetung“ singen und die Hände erheben. Nein, vielmehr hat Francis A. Schaeffer in seinem Buch „Wie können wir denn leben?“ überzeugend dargelegt, daß die tatsächlichen Gegebenheiten hinsichtlich der Beschaffenheit von Wahrheit, Realität und Erkenntnis nicht nur über das Wesen des Universums, sondern vor allem auch über den Charakter des Gottes, der dieses Universum geschaffen hat und regiert, etwas ganz Grundsätzliches aussagen – und daß das, was dann persönlich über die Beschaffenheit von Wahrheit, Realität und Erkenntnis in unserem Universum geglaubt wird, wiederum Entscheidendes über den geistlichen Standort des Betreffenden und seine Beziehung oder Distanz zu diesem Gott aussagt.
Vor diesem Hintergrund ist es ein Fanal, daß evangelikale Schlüsselfiguren und Werke zu einem beträchtlichen Teil in das neue Paradigma einschwenken und selbst zu Storytellern werden oder Storytelling zulasten eines analytischen und reflektierenden Denkens propagieren. Die folgende Linkliste, deren Einträge praktisch immer auf Verbindungen zur Emergenten Bewegung oder ihrem Dunstkreis deuten, vermittelt kaleidoskopartig einen Eindruck von der zunehmenden Verbreitung dieser Sichtweise:
Linkliste 2: Storytelling in der christlichen Szene, in Theologie, Mission, Lobpreis, Erziehung und in christlichen Magazinen
- Andrew Perriman (CAI / Open Source Theology) et al.: Storytelling durch die Bibel
- Andrew Perriman (CAI / Open Source Theology) et al.: Zitate aus einem Buch von Elaine Pagels zur Entdämonisierung Satans, in denen die alttestamentlichen Autoren zweimal als „hebräische Storyteller“ bezeichent werden
- Emmanuel Katongole als Theologe und Storyteller (Marius Brand, The Irreverend Brand, Amahoro Africa-Koordinator Südafrika 2008/09)
- Martin Preisendanz, „Storytelling“, Magister-Arbeit Theologie, New Covenant International University (NCIU) & Werkstatt für Gemeindeaufbau Ditzingen
- Gedankenpark: Storyteller – Neue Geschichten braucht das Land! (Blog von Holger Steffe)
- Gott im Spiel – Godly Play: Storyteller-Kurs in Köln(Blog von Markus Rischen, Pastoralreferent in Neuss, Freund von Emergent Deutschland)
- Jon Huckins: Teaching Through the Art of Storytelling – Creating Fictional Stories that Illuminate the Message of Jesus (YouthSpecialties)
- Storytelling bei Mateno, dem „Zusammenschluß kreativer Köpfe“, und den befreundeten Organisationen „motoki-Kollektiv“ und 7sterne
- The Work Of The People (TWOTP) – eine Gemeinschaft von Künstlern, Storytellern, Filmschaffenden, Dichtern und Theologen, die nichts von „toter, aussagenorientierter Wahrheit“ hält und eng mit der Del Camino Connection, dem USA-seitigen Partner von La Red del Camino, zusammenarbeitet, sowie die Königreich-Gottes-Sicht der Integralen Mission vertritt
- Dan Wilt – Spiritual Storytelling, Keeping faith (Autor von Vineyard-Lobpreisliedern, der leider in emergent-postmoderne und ancient-future Welten abgedriftet ist)
- Sheila Whittenberg (CAI / Haus Berlin): Storytelling (mit Kindern)
- Tina Francis (SheLoves Magazine) glaubt an die Kraft des Storytelling
Statt einer Gesellschaft, die mehr und mehr an der Vertauschung der Realität mit instrumentalisierten „Pseudorealitäten“ erkrankt, das dringend nötige Antidot zu geben, laufen beträchtliche Teile der evangelikalen Szene dem Trend „Storytelling“ sogar hinterher und haben großflächig einen tiefgreifenden Abschied von der Idee einer zugänglichen und belastbaren Wahrheit, Realität und Erkenntnis sowie der Notwendigkeit klaren, reflektierenden und wachen Denkens – und damit letztlich auch von dem dahinterstehenden Gott – eingeleitet. Eine leicht satirische Betrachtung des Gesamtphänomens findet sich in Ron Kubschs TheoBlog in den Beiträgen „Storytelling“ und „Von der Kunst des Geschichtenerzählens“.
Mit dem Storytelling-Paradigma wird inmitten der evangelikal-charismatischen Szene ein von der „Macht interessanter Stories“ faszinierter, wirklichkeitsuntauglicher, dem reflektierenden Denken und den angeblich „toten Aussage-Wahrheiten“ feindlich gesinnter „Glaube“ herangezüchtet, der mit einer tatsächlichen „Wahrheit, die uns freimacht“ (Johannes 8,36), kaum noch etwas zu tun hat und in dem die Warnung von Paulus, daß ohne die Faktizität der Auferstehung Jesu Christen noch in ihren Sünden und damit verloren wären (1.Korinther 15,12-19), wie ein Fremdkörper wirkt.
So fragt man nicht mehr: „Ist es wahr?“, sondern vielmehr: „Ist es schön?“ Der recht begrenzte Wert einer „schönen“ Story, die nicht wahr ist, ist überhaupt kein Thema mehr. So kann, ganz in diesem Geiste, Rob Bell in „Love Wins“ mit dem Argument der „Schönheit einer Story“ indirekt um Sympathie für die Allversöhnungslehre (christlicher Universalismus) werben und die Möglichkeit einer ewigen Strafe und eines ewigen Getrenntseins von Gott zurückweisen, denn: „This isn’t a very good story“!
Telling a story in which billions of people spend forever somewhere in the universe trapped in a black hole of endless torment and misery with no way out isn’t a very good story. Telling a story about God who inflicts unrelenting punishment on people because they didn’t do or say or believe the correct things in a brief window of time called life isn’t a very good story. In contrast, EVERYBODY enjoying God’s good world together with no disgrace or shame, justice being served, and all the wrongs being made right is a better story. It is bigger, more loving, more expansive, more extraordinary, beautiful, and inspiring than any other story about the ultimate course history takes. […]
(aus: Rob Bell, „Love Wins“, S.110-111. Hervorhebungen von narjesus)
An anderen Stellen benutzt Rob Bell eine Sprechweise, die Gott die Rolle des „obersten Storytellers“ zuweist, der uns unser Lebens-Selbstverständnis aus seiner Sicht neu erzählt, und definiert „Glaube“ als unser Vertrauen in dieses „Retelling“ und „Hölle“ als unsere Weigerung, diesem „Retelling“ zu vertrauen:
Hell is our refusal to trust God’s retelling of our story. (S. 170)
We can trust God’s retelling of our story. (S. 176)
(aus: Rob Bell, „Love Wins“ – zu Rob Bells Deutung von Lukas 15,11-32 im Umfeld dieser Zitate wäre noch eine ganze Menge zu sagen, was aber thematisch den Rahmen dieses Postings sprengen würde)
Überhaupt wird christliches Storytelling theologisch fast immer mit der Behauptung gerechtfertigt, daß Jesus bzw. Gott der größte Geschichtenerzähler / Storyteller sei (so auch in einem TheoBlog-Kommentar), und daß die Bibel – gerade auch im Alten Testament – narrative statt aussagenorientierte Theologie präsentiere, ja daß wir dem hebräischen Kontext nur gerecht werden würden und die hebräischen Wurzeln unseres Glaubens nur entdecken würden, indem wir auf jegliche angeblich „griechisch-heidnische“, an Aussage-Wahrheiten orientierte Theologie verzichteten.
Die Gleichnisse und Geschichten Jesu hatten jedoch immer das Ziel, klare, denkerisch begreifbare Kernaussagen vor allem über das Reich Gottes zu verdeutlichen und herauszustellen, oder eine Selbsterkenntnis zur Umkehr zu bewirken. Sie haben mit einem postmodernen Storytelling als Projektionsfläche für die Vorstellungen der Zuhörer, als „story we find ourselves in“, in die wir „eintauchen“ sollen, zur Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zur Erzeugung positiver Stimmungen, als Lieferant inspirierender Bilder, zum Ausschalten gedanklicher Reflexion oder zum Neuschreiben von Geschichte nichts zu tun und dürfen nicht damit gleichgesetzt werden.
Ebenso sind die narrativen Stränge im Alten Testament kein Storytelling und wollen nicht bloß inspirierende Bilder liefern, die uns „irgendwie im Leben helfen“, oder eine „Erzählgemeinschaft“, eine „community identity“ schaffen, sondern wollen Berichte über real abgelaufene Geschichte (History) sein, die nur deswegen Konsequenzen zu haben beanspruchen können, weil sie Historie und nicht Stories sind. Nur deswegen konnte beispielsweise Paulus an die Korinther schreiben:
Dies widerfuhr ihnen [den Israeliten] als ein Vorbild. Es ist aber geschrieben uns zur Warnung, auf die das Ende der Zeiten gekommen ist.
(1.Korinther 10,11 – Luther-Übersetzung)
Und ein analytisches, zu „wahr/falsch“-Dichotomien fähiges und an der Korrespondenzsicht orientiertes Wahrheitsdenken als „griechisch-heidnisch“ und „dem hebräischen Kontext fremd“ darzustellen und so zu tun, als würden sich griechische und hebräische Kultur durch eine völlig andere Epistemologie und ein völlig anderes Wahrheitskonzept voneinander unterscheiden, ist absolut unredlich, wie man sich anhand weniger Beispiele aus dem Alten Testament überzeugen kann (dem steht nicht entgegen, daß das hebräische Wort für Wahrheit, „emeth“, auch die Bedeutungen „Treue“ und „Wahrhaftigkeit“ einschließt). So spricht Jesaja 5,20 ein scharfes Wehe aus über diejenigen, die dichotomische Kategorien (gut – böse, Licht – Finsternis, süß – sauer) auflösen wollen, und Bücher wie 1. und 2. Könige sowie 2. Chronik sind voller geistlicher Analysen und kommen zu messerscharfen geistlichen Gesamtaussagen über die Herrschaft der Könige von Israel und Juda von der Art „N.N. tat, was dem HERRN mißfiel / wohlgefiel“; Satzwahrheiten, wie sie klarer nicht sein könnten. Ebenso besteht der Dekalog aus klaren, unzweideutigen Satzaussagen. Nein, hier soll vielmehr eine Kulturscheidelinie der Antike für unsere Zeit instrumentalisiert und epistemologisch aufgeladen werden, um die von Postmodernisten so favorisierte Ablehnung alles Analytischen und Scharfen einschließlich der Erkennbarkeit einer absoluten Wahrheit auch im christlichen Kontext etablieren zu können.
Das hier dargestellte Gedankengut zur Rechtfertigung christlichen Storytellings findet sich in hohem Maße auch in der Magister-Arbeit von Martin Preisendanz (Studienleiter der „Pionierakademie“ Großburschla/Thüringen, Autor mehrerer Beiträge in der emergent-lastigen Zeitschrift „THE RACE“ – heute „oora“ – und vernetzt mit Vertretern der Emergenten Bewegung wie Andi Wolf, „schlunkfunk“ Daniel Renz, Dominik Sikinger und Gofi Müller) wieder, die hier zur näheren Betrachtung aus der obigen Storytelling-Linkliste herausgegriffen werden soll, da sie von Belang ist als umfangreichster, zudem deutschsprachiger und im deutschen Kontext angesiedelter Beitrag dieser Liste im Rang einer wissenschaftlichen theologischen Arbeit, die an der Werkstatt für Gemeindeaufbau (WfG) Ditzingen angefertigt wurde – eine strategisch wichtige Ausbildungsstätte für junge und künftige geistliche Leiter im deutschen Sprachraum, die zumindest partiell emergent geprägt ist, da neben nichtemergenten Mitarbeitern aktuell mindestens vier wichtige Mitarbeiter der WfG zum Netzwerk Emergent Deutschland gehören; neben Studienleiter Dominik Sikinger sind dies die Dozenten Dagmar Begemann, Björn Wagner und Daniel Ehniß, der nach wie vor im Namen der WfG das Blog „Emergentes Gedankengut“ betreibt.
In dieser Magister-Arbeit, die den Nutzen und die Notwendigkeit christlichen Storytellings sowohl theoretisch-argumentativ wie auch durch empirischen Vergleich der Wirkung einer Predigt mit und ohne Storytelling zum selben Thema nachweisen und rechtfertigen will, stoßen wir zunächst wieder auf eine sympathetische Schilderung der bekannten Thesen der Postmodernisten, daß die postmodernistische Deutung von Wahrheit, Realität und Erkenntnis sich in den westlichen Gesellschaften durchsetzt und vor allem das richtige erkenntnistheoretische System ist:
Es wird allgemein akzeptiert, dass zumindest die westliche Welt in eine neue Zeitepoche eingetreten ist – die Postmoderne. […] Solch eine neue Zeitepoche berührt in der Regel mit der Zeit alle Lebensbereiche – manche von ihnen stark, manche stärker und teilweise werden Bereiche völlig transformiert. Einer der bedeutenden (Vor-)Denker der Postmoderne war der französische Philosoph Jean-François Lyotard. […]
Lyotard spricht von einer „Rückkehr des Narrativen“. Sie hängt zusammen mit seiner These des sog. Endes der großen Erzählungen [= Metaerzählungen, Weltanschauungen]. Das Wissen um die Relativität hat das Weltbild verändert. […] Die Pluralität wird zum Kern des Weltbildes. […]
Es sind klare Tendenzen zu erkennen, dass für die postmoderne Generation Schönheit und Ästhetik mehr zählt, als die Erkenntnistheorie. […] Davon betroffen ist auch die Kommunikation. […]
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 28-30)
…womit wir wieder bei dem Phänomen angelangt sind, daß man nicht mehr fragt: „Ist es wahr?“, sondern: „Ist es schön?“ Nirgendwo in Preisendanz‘ Arbeit wird die hinter diesen Phänomenen stehende Denkwelt und Erkenntnistheorie ernsthaft hinterfragt. Das ganze postmodernistische Denken wird nicht nur als gegeben hingenommen, sondern stellt das erkenntnistheoretische Fundament für seine ganze weitere Argumentation dar.
Nun wird der argumentative Rahmen zur Rechtfertigung von christlichem Storytelling aufgebaut: Ausgehend von der unterschwelligen Prämisse, daß die „alten oralen Kulturen“ – worunter auch die hebräische und die urchristliche eingeordnet werden – keine an der Korrespondenztheorie der Wahrheit orientierte, sondern eine Storytelling-Epistemologie hätten, und weil auch wir jetzt – insbesondere durch die neue AV-Medienwelt von MP3 bis AVI, vom Fernsehen über das Internet bis zu iPod, iPad und iPhone – in die Epoche einer „neuen Oralität“ eingetreten seien und uns damit den „alten oralen Kulturen“ wieder annäherten, wird uns die Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsels hin zu einer postmodernistischen Epistemologie suggeriert:
Die kulturellen Veränderungen der westlichen Welt in den letzten Jahrzenten hin zur Postmoderne läuteten eine nach-schriftliche Epoche ein. Mit der Zunahme elektronischer Hör- und Sehmedien begann eine neue Mündlichkeit, bei der Geschichten wieder deutlich an Bedeutung gewinnen. Narrativität ist auf dem Vormarsch. In diesem Zusammenhang ist die Wiederentdeckung des Storytelling zu sehen, das den gezielten Einsatz von Geschichten meint. […]
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 129)
In der Vergangenheit wurde normalerweise sehr logisch und linear gepredigt. […] Der Grund dafür ist die Zeit der schriftlichen Kultur. […] Doch die Kultur der westlichen Welt hat sich verändert.[…] Die elektronischen Medien führten zu einer neuen Sprache und Art der Kommunikation. Die Sprache der Bücher ist eine logische, rationalistische und geordnete. Die elektronischen Medien wie Fernsehen sprechen die Sprache der Geschichten und Emotionen. Ideen wurden durch Bilder abgelöst und Verstehen wurde durch die Erfahrung verdrängt. Deshalb plädiert [Richard A.] Jensen dafür, in Geschichten zu predigen […] sogar […] in Geschichten zu denken. […] Geschichten einzusetzen ist nicht nur eine andere Form der Kommunikation, sondern erfordert eine andere Art zu denken.
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 77-78)
Deswegen ist in der Emergenten Bewegung die Diskussion darüber, wie die „neuen Medien“ die Kommunikation des christlichen Glaubens und vor allem den Glauben selbst verändern würden, auch so beliebt: das Aufkommen der „neuen Medienwelt“ dient als Anlaß und Aufhänger der obigen Argumentation zwecks Rechtfertigung der angeblichen Notwendigkeit des Paradigmenwechsels hin zu einer postmodernistischen Storytelling-Epistemologie.
Klares, logisches, argumentatives, analytisches und reflektierendes Denken sowie ein der Korrespondenztheorie der Wahrheit entsprechendes wahr/falsch-Denken wird demgegenüber gezielt als episodischer Fremdkörper in der menschlichen Geistesgeschichte und vor allem in der christlichen Glaubensgeschichte dargestellt, der entweder auf den – auffallend spät (18. Jahrhundert) angesetzten – Übergang zur schriftlichen Kultur oder auf das Eindringen „griechisch-heidnischer“ Einflüsse ins Christentum zurückgeführt wird:
Der Prozess von der mündlichen Überlieferung hin zur Schriftlichkeit vollzog sich sehr langsam und in vielen Schritten. […] „Mit großer zeitlicher Verzögerung gelangte dieser Einschnitt auch zu uns, wo die große Mehrheit des Volkes bis ins 18. Jahrhundert hinein in einer mündlichen Kultur lebte […]“ Das Erzählen verlor an gesellschaftlicher Bedeutung, dafür zogen hochkomplexe logische Argumentationslinien und detaillierte Schilderungen Einzug.
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 14-15)
[…] die „heidnisch-griechische Welt, in der der räsonierende Logos den erzählenden Mythos längst verdrängt hatte, führte zum Verlust der ’narrativen Unschuld‘ des christlichen Redens von Gott. Denn nicht ‚der Logos wurde narrativiert, sondern die biblischen Erzählungen wurden … logisiert‘, d. h. in Nicht-Geschichten verwandelt, so dass fortan das ‚Räsonieren und Diskutieren, das Ergotieren und Theoretisieren‘ das Geschäft der Theologie bestimmten.“
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 38)
Es bleibt zu bedenken, dass Geschichten im Gegensatz zur argumentativen Rede nichts beweisen wollen, sondern auf etwas verweisen. Deshalb geht es Geschichten nicht um die Gegensätze von wahr und falsch, sondern sie wollen Phänomene in konkreter Handlung fruchtbar darstellen und ihren Bezug auf die Lebenswirklichkeit verdeutlichen.
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 67)
Die Ablehnung logischen und argumentativen Denkens bei Themen des christlichen Glaubens geht an einer Stelle sogar so weit, daß dort theologisches Reden und Denken, das logische Schlußfolgerungen aus Bibeltexten zieht, praktisch zu einem Verstoß gegen „sola scriptura“ gemacht wird, denn dies wäre der Versuch, die biblische Botschaft aus dem Story-Medium herauszulösen, und dabei würde die Botschaft gleich mit zerstört:
Manche Lehrer beginnen ihren Unterricht damit, eine (biblische) Geschichte zu erzählen, um dann daraus die Theologie in der Geschichte herauszuarbeiten. Damit lösen sie den theologischen Gehalt aus der Geschichte und leiten Dogmen ab. Wenn sie aus Geschichten Theologie ableiten können, dann scheint es, als existierte die Theologie vor der Geschichte. McLuhan argumentiert aber, dass das Medium die Botschaft ist, denn die Botschaft ist im Medium eingebettet. […]
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 78)
Scheint der Autor in der Einleitung (S. 18/21) noch die Auffassung zu vertreten, daß „argumentatives“ und „narratives“ Denken gleich notwendig seien, so ist hier wie auch sonst im Hauptteil nichts mehr davon zu sehen. Die Arbeit ist eindeutig ein Plädoyer für das Storytelling-Paradigma und auf postmodernistische Epistemologie gegründet.
Des weiteren werden in der Arbeit die Wirkungsweise von Storytelling erörtert sowie Unternehmenskommunikation, Neurowissenschaften und Pädagogik bemüht, um die Vorzüge von Storytelling herauszustellen, und dabei heißt es:
Mit einer Geschichte werden rationale Bewertungsmechanismen tendenziell ausgeschaltet. Die Zuhörer lassen sich „ohne Bedenken“ auf eine Geschichte ein, weil die Tatsachen meist in den Hintergrund gerückt werden. Das zeigt sich auch daran, dass die Zuhörer sich entspannen, denn es herrscht kein Druck, sich mit den Inhalten bewusst auseinandersetzen zu müssen. Die Geschichte strömt dann auf sie ein und wirkt unterbewusst.
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 41)
Hat die neue Storytelling-Erkenntnistheorie einmal die Regie übernommen und so lange uns in Erzählungen eingebettet und die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt, daß die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion, zwischen wahr und falsch verblassen, dann ist auch ein Erkennen häretischen Gedankenguts oder unseriös begründeter Zusammenhänge nicht mehr möglich, und man nickt innerlich bei Botschaften, denen man bei genauem Nachdenken nicht zustimmen würde. Ein derartiges absichtliches Unterlaufen und Überlisten des bewußten reflektierenden Denkens von Menschen, so daß sie Botschaften vertrauen, denen sie bei überlegtem Nachdenken nicht vertrauen würden, ist ganz sicher nicht „königskindermäßig“!
Paulus hatte dergleichen nicht nötig. Er nahm für sich in Anspruch, mit offenem Visier Menschen vom Reich Gottes zu überzeugen (Apostelgeschichte 19,8) statt sie zu überreden (1.Korinther 2,4). Und nicht nur im Reich Gottes ist eine derartige manipulative Gesinnung nicht wünschenswert. Auch eine Gesellschaft, in der politische Prozesse so ablaufen, ist nicht wünschenswert. Und ein Wirtschaftsleben, das von einer Mitarbeiterführung dieser Art geprägt ist, ist nicht wünschenswert.
Die weitere Rechtfertigung von Storytelling in Preisendanz‘ Arbeit findet ihren Abschluß in einem praktischen Teil, der anhand des Einsatzes zweier Versionen einer Predigt empirisch nachweisen soll, daß Predigtbotschaften mit einem Storytelling-Ansatz nachhaltiger als mit einem Nicht-Storytelling-Ansatz vermittelt werden können. Die beiden Predigtversionen, auf die sich die Untersuchungen im praktischen Teil der Arbeit beziehen, sind der Arbeit nicht beigefügt, so daß nicht verifiziert werden kann, inwieweit nun tatsächlich ein Storytelling-Ansatz und ein Nicht-Storytelling-Ansatz gegeneinander getestet wurden. Aber unabhängig davon, ob die Untersuchungen nun tatsächlich den gewünschten empirischen Nachweis darstellen können – und wir nehmen jetzt einfach mal an, dies wäre der Fall -, ist folgendes zu bedenken:
Empirie kann, wenn sie richtig angewendet wird (was besonders in Bereichen wie der Evaluation von Pädagogik oder der Demographieforschung ein großes Problem zu sein scheint), einen Ist-Zustand feststellen oder auch Gesetzmäßigkeiten und die Korrelation von Merkmalen nahelegen oder falsifizieren. Doch Empirie kann keine Wertfragen beantworten, keine Antwort darauf geben, ob ein festgestellter Zustand wünschenswert ist oder nicht. Ist der Vormarsch des „Storytelling“-Denkens, von einem biblischen Standpunkt aus betrachtet, überhaupt wünschenswert? Entspricht es dem der Bibel zugrundeliegenden Verständnis einer erkennbaren und vom menschlichen Beobachter unabhängig existierenden Wahrheit und Realität? Diese Fragen können nicht an die Empirie delegiert werden, sondern nur aus dem Wahrheitsverständnis der biblisch-christlichen Weltsicht heraus beantwortet werden.
Interessant ist aber, wenn wir einmal der Qualität der Empirie dieser Arbeit vertrauen, auf jeden Fall folgendes Ergebnis:
Die Detailuntersuchung hat weiter gezeigt, dass die Geschichten bei den beiden Altersgruppen bis 40 Jahren besser abgeschnitten haben, während die Auflistung bei den beiden älteren Altersgruppen höhere Werte bekam. Es müsste in Zukunft weiter untersucht werden, inwieweit sich der Generationenunterschied bestätigt oder ob die kulturellen Veränderungen hin zu mehr Narrativität sich auch bei den älteren Menschen niederschlägt.
(Martin Preisendanz, „Storytelling“, S. 130)
Dies erinnerte mich sofort an die Ausführungen meines ehemaligen Pastors Matthias Pache in unserem entscheidenden Gespräch vor 10 Monaten, das zu meiner Absetzung als Hauskreisleiter und anschließend zu meinem Gemeindeaustritt aus der CGHH geführt hat ( mein Posting „Good-bye CGHH – it’s time to part“). Er machte geltend, daß der Postmodernismus in der jungen Generation so vorherrschend geworden sei, daß die Über-40-Jährigen (wie ich, ich bin 45 Jahre alt) die Unter-40-Jährigen vom Denken her – auch in der Gemeinde! – teilweise gar nicht mehr verstehen würden, und daß wir um dieser jungen Generation innerhalb und außerhalb der Gemeinde willen „postmoderne Veränderungen“ in der Gemeinde brauchen. Meine Argumentation, daß diese Verständniskluft Folge der dem biblisch-christlichen Denken widersprechenden gefährlichen Preisgabe der Korrespondenztheorie der Wahrheit und der Infragestellung einer erkennbaren Wahrheit und Realität im Postmodernismus ist und daß die Gemeinde deswegen postmodernistische Tendenzen zurückweisen muß, statt ihnen auch noch Raum zu geben und einen emergenten Gemeindeberater aus Berlin heranzuholen, wurde von meiner ehemaligen Gemeindeleitung in keinster Weise anerkannt oder gelten gelassen.
Die Bedeutung des Alters von 40 Jahren hier wie auch beim obigen empirischen Befund läßt sich leicht dadurch erklären, daß das, was sich in den späten 1990er-Jahren unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen als „Generation X“ manifestierte und bekannt wurde und später auch als die „postmoderne Generation“ bezeichnet wurde, inzwischen – einfach dank des natürlichen Älterwerdens – die „Generation U40“ ist (mir liegt es aber fern zu pauschalisieren: nicht jeder ist vom postmodernistischen Denken geprägt, nur weil er unter 40 ist, und umgekehrt gibt es auch eine ganze Reihe Über-40-Jähriger, die vehement für ein postmodernistisches Denken eintreten). Damit ist die Gefahr, daß postmodernistisches Denken in der nächsten Zeit gesellschaftliche Mehrheiten erzielen könnte, inzwischen beträchtlich gestiegen. Und das sind wahrhaft keine guten Aussichten.
Eine Gesellschaft, die „Storytelling“ in allen Lebensbereichen von Sachentscheidungen bis hin zu Fragen von Ethik, Recht, Geschichtsschreibung und Gesellschaftsordnung zum Leitprinzip erhebt, ist in großer Gefahr, zum Spielball manipulierender Kräfte zu werden und in deren Powerplay unterzugehen. In einer Gesellschaft, die nicht mehr zwischen wahren und fiktiven Stories unterscheiden kann oder will, können auch beliebige Anschuldigungen gegen mißliebige Personen konstruiert und – im Sinne einer „soziologischen Rechtsprechung“, vor der Francis A. Schaeffer gewarnt hat – zur Basis von Gerichtsurteilen gemacht werden. Die Art, wie der ZEIT-Journalist Jens Jessen die Münchner U-Bahn-Schläger von 2008 zu „Opfern“ des zusammengeschlagenen Rentners gemacht hat ( Focus-Artikel „Prügel für die Geprügelten“), gibt eine ungute Vorahnung davon – eine Vision von Gesellschaft, vor der einem nur grauen kann.
Um dies noch einmal zu unterstreichen, soll zum Schluß der für seine Totalitarismus-Dystopie „1984“ bekannte britische Autor George Orwell (1903-1950) mit einem Zitat, das ich bereits in einem anderen Posting angeführt habe, zu Wort kommen:
So etwas läßt mich erschaudern, weil es mir oft das Gefühl vermittelt, daß das Konzept der objektiven Wahrheit aus der Welt verschwindet… Ich bin bereit zu glauben, daß Geschichtsschreibung zum größten Teil ungenau und voreingenommen ist, aber bezeichnend für unsere Epoche ist die Preisgabe des Gedankens, daß Geschichte überhaupt wahrheitsgetreu geschrieben werden kann. In der Vergangenheit haben Leute bewußt gelogen oder unbewußt ihre Darstellungen gefärbt, oder sie jagten der Wahrheit nach, wohlwissend, daß sie dabei viele Fehler machen müssen; aber in jedem Fall haben sie geglaubt, daß „die Fakten“ existieren und – mehr oder weniger – entdeckt werden können.
(George Orwell, zitiert nach: George Englebretsen, Bare Facts and Naked Truths, S. 3 – Übersetzung: Torsten Narjes)
Der Leib Christi hat die Pflicht, gegen eine postmodernistische Storytelling-Epistemologie die biblisch-christliche Sicht der Zugänglichkeit und Erkennbarkeit einer unabhängig vom Beobachter existierenden objektiven Wahrheit und Realität zu bezeugen, statt den Vormarsch der postmodernistischen Epistemologie in der Gesellschaft noch zu unterstützen oder gar in den eigenen Reihen durchzusetzen.
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