In Vorbereitung eines anderen Postings zu einem anderen Thema habe ich kürzlich die Website der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Bezirksverband Hannover, aufgerufen und bin dort ziemlich direkt durch Klicken eines Links auf etwas gestoßen, das meine Vorstellung davon, wie weit der Glaube an die heilende und realitätsgestaltende Kraft von „Neusprech“ sich in gesellschaftlichen Einrichtungen tatsächlich festgesetzt hat, wieder ein Stück ausgeweitet hat.
Gepaart mit einem Foto, das sehr stark an das Logo des Evangelischen Kirchentags 2011 in Dresden mit seinem Motto „…da wird auch dein Herz sein“ erinnert, findet man dort den „AWO Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren“. Beim Lesen fiel mir spontan der Begriff „Realsatire“ ein, aber leider ist das, was dort steht, total ernst gemeint:
AWO Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren
Gleichstellung in Sprache und Schrift – 12 Sprachregeln
Die Schriftsprache ist ein wesentlicher Ansatzpunkt für die Umsetzung von geschlechtergerechten, also die Gesellschaft abbildenden, Formulierungen. Dabei geht es nicht darum, eine Sprache zu schaffen, die kompliziert und umständlich ist, sondern eine Sprache, die Frauen genauso wie Männer hörbar und sichtbar macht.
Der AWO Bundesverband e.V. empfiehlt die konsistente Verwendung geschlechtergerechter Sprache in allen Veröffentlichungen und Publikationen der AWO.
Häufig wird die Meinung vertreten, dass eine geschlechtergerechte Formulierung umständlich und hässlich ist oder Texte erheblich verlängert. Das stimmt auch – wenn sie ungeschickt angewendet wird. Geschlechtergerechte Formulierung erfordert Sprachgefühl, Kreativität und die Bereitschaft, Formulierungsgewohnheiten zu verändern.
Dabei ist zu bedenken: Was heute noch „komisch“ klingt, kann morgen schon die Norm sein. Was zur Norm wird, bestimmen die Mitglieder der Sprachgemeinschaft durch ihr Verhalten entscheidend mit. Dieser Leitfaden soll daher nicht nur zeigen, wie geschlechtergerechtes Formulieren aussehen kann und welche sprachlichen Strategien dabei hilfreich sind, sondern auch zu einem größeren Sprachbewusstsein und einer kreativen Auseinandersetzung mit dem Thema ermuntern.
[…]
In 12 Sprachregeln werden in dem neuen AWO Leitfaden die wichtigsten Hinweise zur geschlechtergerechten Sprache zusammengefasst:
Regel 1 Verwenden Sie immer beide Formen, wenn Männer und Frauen gemeint sind. (Die vollständig ausformulierte Form eignet sich vor allem für fortlaufende und gesprochene Texte.)
Regel 2 Nennen Sie beide Geschlechter sorgfältig und symmetrisch.
Regel 3 Vereinfachen Sie Paarformen mit dem Plural.
Regel 4 Verwenden Sie Kurzformen „xxx/in“ nur bei knappen Texten.
Regel 5 Verwenden Sie die Kurzformen grammatikalisch richtig.
Regel 6 Verwenden Sie ab und zu neutrale Formen.
Regel 7 Nutzen Sie die direkte Rede.
Regel 8 Formulieren Sie kreativ um.
Regel 9 Setzen Sie bei Dokumenten, die sich an Einzelpersonen richten, die präzise Form ein.
Regel 10 Beachten Sie bei historischen Dokumenten und Übersetzungen die Hintergründe.
Regel 11 Vermeiden Sie Klischees.
Regel 12 Denken und sprechen Sie ganz selbstverständlich für beide Geschlechter.
Den vollständigen Leitfaden finden Sie als PDF unter AWO Presse & Positionen.
(aus: AWO BV Hannover, AWO Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren, aufgerufen am 04.01.2012)
Angesichts dieser zukunftsweisenden Richtlinie bin ich fast versucht zu glauben, daß ich in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren, als unsereins noch in völliger Unkenntnis dieser wertvollen und bahnbrechenden Formulierungshilfen dahinvegetierte, in einer widerlich barbarisch-archaischen Gesellschaft aufgewachsen bin. Komisch, daß ich die ganze Schulzeit hindurch bis zum Abitur nichts davon gemerkt habe.
Als ich später, in den 1990er-Jahren, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am ehemaligen Institut für Kernphysik der Universität Kiel tätig war, war es dann nicht nur die Phalanx bestimmter Hochschulgruppen, die mich für die neuen Formulierungstechniken sensibilisierte, sondern vor allem ein Hinweisschild, das am Hinterausgang unseres Instituts auf dem Weg zu den Parkplätzen angebracht war. Der Text darauf begann so: „Autofahrer!“, gefolgt von einem Hinweis, nicht das Scheinwerferlicht brennen zu lassen. Dieses Schild wurde irgendwann durch eine auf die neuen Formulierungstechniken spezialisierte Person handschriftlich ergänzt: „AutofahrerInnen“ las man dann dort. Ein humoristischer Zeitgenosse befand, daß diese Ergänzung nicht vollständig war, und ergänzte das Ganze zu „AutofahrerInnen und außen“…
Da ist es doch nur gut, daß jetzt ein Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege sich dieses Themas angenommen und bestimmt auch ein paar Euro investiert hat, um uns hier den Pfad zu echter Geschlechtergerechtigkeit zu weisen…
Ähem, Ironie aus. Besorgniserregend an dem Ganzen ist, daß selbst die kleinste Möglichkeit eines subjektiven (!) Empfindens von „Benachteiligung“ inzwischen ausreicht, um eine wahre Monstermaschinerie des sprachlichen und sonstigen Hyperegalitarismus in Gang zu setzen, die vor unterschiedlich beschaffenen Lebensrealitäten selbst (von menschlicher Seite) physisch oder physiologisch nicht wandelbarer Art nicht haltmachen will und dabei einem liebevollen menschlichen Miteinander und gesteigerter Lebensqualität nicht einen Nanometer näherkommt. Sie erweckt den Eindruck, daß ausnahmslos alle Realitäten sprachlichen oder sozialen Ursprungs sind und bestehende Machtverhältnisse ihre einzige Quelle sind, und „verheißt“ die totale Formbarkeit der Realität bis in die Quarks und Fundamentalkräfte der Physik hinein.
Sowohl der Neomarxismus, für den „das Bewußtsein das Sein bestimmt“, als auch der Postmodernismus, der an die Nichtzugänglichkeit einer objektiven Realität und die Schaffung unserer effektiven Realität durch linguistische „language games“ glaubt, stimmen – trotz ihrer nicht deckungsgleichen philosophischen Voraussetzungen – im Glauben an die realitätsschaffende Macht von Sprache überein. Diesem Denken und den beiden genannten dahinterstehenden Denkschulen – insbesondere auch dem gefährlichen Antirealismus, der den Postmodernismus kennzeichnet ( mein Posting vom 28.05.2011) – muß argumentativ und mit den besten gedanklichen Ressourcen begegnet werden.
Letzte Kommentare